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Laura und Calvin
Laura folgte Calvin mit ein paar Schritten Abstand zu dem Platz, an dem Baltasar angebunden war. Dort angekommen, schwang er sich in den Sattel und hielt Laura die Hand hin. Als sie zögerte, meinte er patzig:
»Nur keine falsche Scheu. Ich beiße nicht.«
Laura nahm grummelnd seine Hand und zog sich hoch. Nachdem sie hinter ihm Platz genommen hatte, wusste sie nicht so recht, was sie mit ihren Händen tun sollte. Calvin nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sich ihre Handgelenke schnappte und sie zwang, ihre Arme um ihn zu legen. Und dann ritten sie los. Calvin trieb Baltasar zur Eile, weshalb sie die Hütte nach kurzer Zeit schon ein ganz schönes Stück hinter sich gelassen hatten. Sie folgten dem See, bogen irgendwann nach links in ein Waldstück ein, und schlängelten sich, nun langsamer, durch die Bäume hindurch.
»Es ist sehr schön hier.« Laura begutachtete die moosigen Bäume, die aussahen als wären sie schon Tausende von Jahren alt. Das Sonnenlicht ließ das Moos grünlich schimmern, was dem Ort etwas Magisches, ja beinahe Heiliges verlieh. »Ist das der Panwald?«
»Ja. Dies hier ist der älteste und auch so ziemlich der letzte Teil des Nachtwaldes, der noch nicht zerstört wurde.«
»Das hier ist ein Teil des Nachtwaldes?«
»Ja. Komm, von hier aus gehen wir zu Fuß weiter.« Nachdem sie abgestiegen waren, band Calvin Baltasar an einem der Bäume fest. Danach begannen sie stumm nebeneinander her zu marschieren. Nachdem sie eine Weile gegangen waren, konnte Laura das Rauschen von fließendem Wasser hören.
»Was ist das?«
Calvin blieb stehen und deutete auf die Anhöhe vor ihnen.
»Gleich da vorn gibt es einen Felsvorsprung. Darunter endet der Grindelsee und bildet den Ursprung des Flusses Tsam. Früher haben Henry, Raoul und ich sehr viel Zeit hier verbracht. Wir sind von dem Felsen in den See gesprungen, haben Verstecke gebaut, Krieg gespielt und all so ein Zeug.« Er schmunzelte. »Was heranwachsende junge Männer eben so tun.«
Laura musste lachen. »All so ein Zeug also?« Sie zog amüsiert eine Augenbraue hoch. »Du kannst es ruhig sagen. Ihr habt heranwachsende junge Mädchen mit hierher gebracht, stimmt´s?«
»Ja, unter anderem.« Calvin betrachtete Laura wachsam. »Warum bist du heute Morgen einfach weggelaufen?«
Oje, irgendwie hatte sie befürchtet, dass diese Frage kommen würde. Sie tat, als hätte sie ihn nicht gehört. »Wie tief geht es da vorne denn runter?«
»Laura, lenk jetzt nicht vom Thema ab. Warum bist du weggelaufen?«
»Naja, ich dachte, du würdest mit Selana vielleicht allein sein wollen?« Ihre Antwort klang mehr wie eine Frage.
Calvin verschränkte die Arme vor der Brust. »Nächster Versuch.«
Sie seufzte und ließ resigniert die Schultern sinken. „Weil ich nicht wusste, was kommen würde.« Mit einem Mal wurde sie wütend. »Und weißt du auch wieso? Weil noch kein Mann zuvor so viele widersprüchliche Signale gesendet hat wie du! Ich verstehe dich einfach nicht, du verwirrst mich und ich kann nicht behaupten, dass mir das gefällt! Ich meine, zuerst behandelst du mich wie den letzten Menschen, dann auf einmal sendest du diese, wie ich dachte, unmissverständlichen Signale, nur um mich anschließend wieder völlig links liegen zu lassen. Und heute Morgen … Zuerst sitzt du da wie ein toter Fisch und schaffst es, dass ich mir wie der größte Idiot vorkomme, dann plötzlich tust du so, als wolltest du mich am liebsten auffressen, und im nächsten Moment bist du auf einmal verärgert, was ich ganz und gar nicht nachvollziehen kann! Ich für meinen Teil finde nämlich, dass das, was heute Morgen zwischen uns passiert ist, sehr schön war!«
Da Laura vergessen hatte zwischen den Sätzen Luft zu holen, keuchte sie nun wie ein Langstreckenläufer. »So, ich hoffe, du bist jetzt zufrieden!«
Calvin lachte. Er lachte sie aus. Laura schürzte beleidigt die Lippen.
»Was ist denn daran bitte so komisch?«
Mit einem Mal wurde er wieder ernst. »Du hast recht, ich war tatsächlich verärgert.«
Laura fiel in sich zusammen wie ein Heißluftballon.
»Na toll.« Sie starrte auf den Boden, weshalb er ihr Gesicht in beide Hände nahm und es zu sich heranzog. Er sah ihr in die Augen und sein Blick war dabei ganz sanft.
»Ich war wütend, weil ich dich nicht gleich irgendwohin gebracht habe, wo wir ganz für uns gewesen wären. Der Gedanke, was ich mit dir eigentlich alles hatte anstellen wollen, frustriert mich immer noch.«
»Oh, ach so.« Lauras Beine fühlten sich plötzlich an wie Gummi.
»Was genau hättest du denn so mit mir anstellen wollen? Ich frag nur so aus Neugierde.«
Calvins Blick senkte sich auf ihre Lippen. »Nun wenn du es genau wissen willst …«
Mitten im Satz erstarrte er.
Laura seufzte frustriert. »Was? Was ist denn jetzt schon wieder?«
Calvin bedeutete ihr still zu sein. »Beweg dich nicht.«
Er trat einen Schritt zurück und lauschte gespannt. Mit einem Mal fiel sein Blick auf ihre Beine. Dabei sah er so erschrocken aus, dass Laura regelrecht Angst bekam. »Sag schon, was ist los?«
»Was du auch tust, heb auf gar keinen Fall deine Füße an, lass sie fest auf dem Boden stehen.«
Sie sah panisch auf ihre Füße hinunter. »Warum denn das?«
»Weil du mitten auf ein Walgennest getreten bist.«
»Ein Walgennest? Was soll das heißen? Was ist das?«
»Eine Walge ist ein Insekt, ähnlich einer Wespe, nur dass sie unter der Erde lebt. Walgen sind sehr aggressiv und ihr Gift ist tödlich. Ein einziger Stich haut das stärkste Pferd um.«
»Aha.« Laura brach der Schweiß aus. »Und was sollen wir jetzt tun?!«
Calvin fuhr sich ratlos durchs Haar. »Als erstes solltest du dich beruhigen.«
»Mich beruhigen!« Lauras Stimme wurde zu einem hysterischen Kreischen. »Diese Viecher sind gerade dabei sich durch meine Schuhsohlen zu fressen!«
»Laura das bildest du dir nur ein.«
»Nein, tu ich nicht! Ich spüre das Kribbeln klar und deutlich!« Sie war kurz davor umzufallen.
Er nahm sie an den Schultern und schüttelte sie leicht. »Laura sieh mich an. Atme tief ein und aus.«
Nach kurzem Zögern tat sie, was er von ihr verlangte.
»Genau so. Ein und aus, ein und wieder aus.«
»Weißt du, Calvin, eigentlich habe ich mir meinen Abgang etwas spektakulärer vorgestellt. Dass man mich zu Tode foltern würde, zum Beispiel, oder dass ich von irgendeiner ungeheuerlichen Bestie gefressen würde. Noch besser gefiele mir, die Leute würden später ihren Kindern erzählen, ich sei im Kampf gefallen, mit dem Schwert in der Hand und Mut in meinem Herzen. Stattdessen wird es heißen: Die Hüterin starb an einem Insektenstich.«
Calvin schüttelte den Kopf. »Keine Angst, das werde ich nicht zulassen.«
Er trat einen weiteren Schritt zurück und sah sich nachdenklich um. Laura war etwas irritiert, als er zuerst seine Stiefel und dann sein Hemd auszog. Seinen Schwertgurt nahm er ebenfalls ab und legte ihn zu dem Haufen dazu.
»Was soll denn das werden?«
»Leg alles ab von dem du nicht willst, dass es nass wird.«
Laura nestelte mit zitternden Händen am Verschluss ihres Umhangs herum. »Und warum tun wir das jetzt?« Mit Calvins Hilfe schaffte sie es den Umhang abzulegen. Nur widerwillig ließ sie zu, dass er ihr die Tasche abnahm und zu den anderen Sachen legte.
»Was hast du da eigentlich drin?«
Laura schluckte schwer. »Nichts Wichtiges. Du hast mir immer noch nicht verraten, was wir machen werden.«
»Ganz einfach, wir springen da vorne vom Felsen. Ins Wasser werden uns die Walgen nicht folgen.«
»Und wie tief geht’s da ungefähr runter?«
Calvin tat ihre Unsicherheit mit einer schlichten Handbewegung ab. »Ach, höchstens vier Meter.«
»Vier Meter? Hu, das ist aber ganz schön viel.«
Er zog amüsiert eine Augenbraue in die Höhe, weshalb sie verärgert ihre Hände in die Hüften stemmte und sagte:
»Jetzt sieh mich bloß nicht so an. Ich leide nun mal an entsetzlicher Höhenangst. Einmal im Turnunterricht hätte ich von einem Dreimeterturm springen sollen. Als ich mich weigerte, mussten mich zweit Lehrer gleichzeitig von der Leiter runterzerren. Ich habe dabei vor Panik so wild um mich getreten, dass ich einen von ihnen beinahe zu einer Lehrerin gemacht hätte.«
»Jetzt sei nicht so ein Hasenfuß.« Calvin hob ungeduldig die Hände in die Höhe. »Wenn du einen besseren Vorschlag hast, nur zu, ich bin ganz Ohr.«
Leider hatte sie keinen. »Und was ist mit unseren Sachen?«
»Keine Angst, die stiehlt uns schon keiner. Später, wenn die Lage sich beruhigt hat, kommen wir zurück und holen sie uns.«
»Okay.« Laura nahm Calvins Hand und atmete ein paarmal tief durch.
»Bist du bereit?«
Sie nickte. »Ja bereit.«
»Dann los.« Die beiden sprinteten los, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her. Da Calvins Beine länger waren als die von Laura, hatte sie einige Mühe mit ihm Schritt zu halten, doch am Ende schafften sie es gemeinsam bis zum Felsen.
Vier Meter? Von wegen!
Laura wollte noch bremsen, doch Calvin machte einen großen Satz und zog sie mit sich.
»Na warte, ich werde dich umbringen … Aaahhhh!« Sie schrie, was das Zeug hielt, als sie zusammen mit ihm sage und schreibe zwölf Meter in die Tiefe stürzte. Während des freien Falles hatte sie irgendwann seine Hand losgelassen und so kam sie nach einem unsanften Aufprall, allein an die Wasseroberfläche. Hustend und prustend betrachtete sie die Felswand.
»Alles okay?« Calvins Kopf ragte etwas abseits von ihr aus dem Wasser. Ein unschuldiges Lächeln umspielte seine Lippen.
»Oh, du Mistkerl!« Mit kräftigen Zügen schwamm sie auf ihn zu, doch er schwamm ebenso schnell Richtung Ufer, um ja genug Abstand zwischen ihnen beizubehalten. Das Wasser wurde langsam seichter, sodass Laura stehen konnte. Der Boden war weich, schlammig und rund um ihre Beine schlängelte sich Seegras. Während ihr das Wasser noch bis zum Kinn reichte, stand Calvin bereits halb im Trockenen.
»Na warte, wenn ich dich in die Finger kriege!«
Sein Lachen kam aus tiefstem Herzen. »Tut mir leid. Vielleicht stimmt es dich ja etwas milder, zu erfahren, dass ich durch dein Gekreische jetzt auf einer Seite taub bin.«
»Nein, ganz und gar nicht.« Sie sah sich vorsichtig um. »Sind wir wenigstens die Walgen losgeworden?«
Wieder grinste er sie so unschuldig, bubenhaft an. »Laura ich …«
»Was!« Plötzlich begriff sie. »Diese Walgen gibt es überhaupt nicht!«
»Doch schon.«
Als Laura auf ihn zustapfte, konnte man regelrecht Rauchwolken aus ihren Ohren steigen sehn.
»Allerdings sind Walgen in Wirklichkeit nur kleine harmlose Käfer.«
»Kleine harmlose Käfer? Na warte, ich mach dich fertig!«
Calvin streckte beschwichtigend die Hände vor sich aus. »Bitte Laura, das war doch nur Spaß.«
»Ja, für dich vielleicht.« Sie hatte ihn schon auf halbem Wege erreicht als sein Lächeln plötzlich erstarb. Sie sah, wie er schwer die Luft einsog und wie sich dabei seine Kiefermuskeln anspannten. Als sie an sich hinunter sah wusste sie sofort, warum. Durch das Wasser war der weiße Stoff ihres Kleides beinahe durchsichtig geworden. Er schmiegte sich außerdem so eng an ihren Körper, dass sie genauso gut oben ohne hätte herumlaufen können.
»Oh, wie peinlich.« Sie ging in die Knie, sodass sie wieder bis zum Hals im Wasser steckte. Hektisch sah sie sich um, ob auch ja niemand in der Nähe war, schließlich hatte sie in der kurzen Zeit, die sie hier war, schon für genug Gesprächsstoff gesorgt. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass sie allein waren, richtete sie ihr Augenmerk wieder auf Calvin.
»Na warte. Das ist dafür, dass du mich grundlos zwölf Meter in die Tiefe gejagt hast!«
Sie schnappte sich eine Faust voll Schlamm, gespickt mit etwas Seegras, sprang auf und warf. Calvin war immer noch so benommen, dass er das Geschoss nicht rechtzeitig bemerkte, und so landete es, begleitet von einem lauten Platschen, mitten auf seiner Stirn. Reglos stand er da und sah dabei so verdutzt aus, dass nun Laura diejenige war, die lauthals lachen musste. Das Seegras hatte sich in seinen Haaren verfangen, während sich der Schlamm allmählich Stück für Stück von seiner Stirn löste und ins Wasser plumpste. Immer noch völlig fassungslos sah Calvin auf seine Brust, an der ihn gerade ein zweiter Klumpen getroffen hatte.
»Und das war fürs Glotzen.« Laura lachte noch lauter. Allerdings blieb ihr das Lachen im Halse stecken als Calvin plötzlich aufblickte mit einem angriffslustigen Blitzen in den Augen.
»Oha. Calvin, ich finde wir sind jetzt quitt, also lass uns doch einfach einen Waffenstillstand schließen. Na, was hältst du davon? Schließlich wollen wir doch nicht, dass jemand verletzt wird, oder?«
Langsam kam Calvin auf sie zu, weshalb sie vorsichtig ein paar Schritte zur Seite machte.
»Oh bitte, du willst doch nichts überstürzen!« Sie rannte so schnell sie konnte, und so gut es der feinsandige Untergrund zuließ, Richtung Ufer. Dabei versuchte sie einen weiten Bogen um ihn zu machen.
Kurz bevor sie aus dem Wasser heraus war, stolperte sie und krabbelte kurzerhand auf allen vieren weiter. Sie war schon auf dem Trockenen, als er sie am Fußgelenk zu fassen bekam und sie ein Stück weit zurück ins Wasser zog. Sie quiekte vergnügt als er sie herumdrehte und mit seinem Körper festhielt, sodass sie nicht mehr weg konnte. Sie blickte auf, geradewegs in eine Hand voll Sand und blinzelte, als sich daraus ein paar Körner lösten und auf ihr Gesicht rieselten.
»Nein, bitte, hab Erbarmen, ich gebe auf.«
Calvin ließ die Hand sinken und grinste sie überlegen an. »Tja, und wieder einmal trägt das stärkere Geschlecht den Sieg davon.«
Sein Grinsen erlosch allmählich, als er sich des zarten Körpers unter sich bewusst wurde. Das Gefühl ihrer warmen Haut im Kontrast zum eisigen Wasser war ungemein erregend. Ungelenk strich er über Lauras Wangen, um ein paar lose Körner wegzuwischen. Sie neigte den Kopf zur Seite und vergrub ihr Gesicht in seiner Handfläche, um sie mit kleinen Küssen zu bedecken. Als sie sich ihm wieder zuwandte, zeichnete er mit seinem Daumen sanft die Konturen ihres Mundes nach.
»Du hast so unglaublich schöne Lippen. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich gefragt, wie sie sich wohl anfühlen würden. Würden sie so süß schmecken wie sie aussahen? Der Gedanke daran hat mich halb wahnsinnig gemacht.« Mit wachsamen Augen beobachtete er den Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Und jetzt, da ich es weiß, kann ich an nichts anderes mehr denken als daran, sie erneut zu kosten.«
Er schmiegte seine Wange an ihre und flüsterte ihr leise ins Ohr: »Ich will noch so viel mehr von dir, Laura Freya.« Sanft küsste er ihre Nasenspitze. »Ich will alles.«
Laura nickte und dann küsste er sie richtig. Nicht so stürmisch wie am Morgen sondern langsam und zärtlich, so, als hätte er alle Zeit der Welt. Er schmiegte sich an sie, sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu erdrücken, weshalb sie ihm kurzerhand Arme und Beine um den Körper schlang, um ihn noch näher an sich zu ziehen. Sie wollte sein Gewicht spüren, wollte ihn ganz. Noch nie hatte sie einen Mann so sehr begehrt und er begehrte sie ebenfalls, das war deutlich zu spüren. Ruhelos wanderten ihre Hände über seinen Körper. Nach einer Weile begann sie an seiner Hose herumzuzerren, doch er hielt sie auf, indem er sich ihre Hände schnappte und sie um seinen Nacken legte.
»Halt dich fest.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde nicht zulassen, dass uns noch mal jemand stört, du gehörst jetzt mir.«