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Das Gesicht von Liebe und Tod
Thiwelfaria Band II
Der Fremde
Die Gefährten fanden einen Platz, an dem sie sich einigermaßen gut verstecken konnten. Laura hatte weiterhin den grausigen Gestank der Kaubuks in der Nase. Außerdem machten sich, jetzt da es etwas ruhiger wurde, allmählich die Verletzungen bemerkbar, die sie sich zugezogen hatte. Ihr Brustkorb schmerzte höllisch, genauso wie ihr Bein.
Etwas umständlich ließ sich Laura auf dem Boden nieder. Sie suchte sich eine halbwegs angenehme Position und begann zu grübeln. Mehr zu sich selbst meinte sie schließlich: „Ich habe, seit ich in diese Welt gekommen bin, schon viele Tote gesehen, oftmals übel zugerichtet. Man sollte meinen, dass es irgendwann leichter wird.“
Seivoss schüttelte den Kopf. „Mit dem Tod konfrontiert zu werden ist nie leicht. Er ist und bleibt hässlich, egal, wie oft man ihm begegnet. Ein grausamer Geselle, der uns alles nimmt, was uns am Herzen liegt.“
„Ja, so ist es wohl.“
Laura sah hinüber zu Seivoss´ Männern. Schweigend saßen die Leimoniaden da und trauerten um ihre verlorenen Brüder.
„Es war faszinierend mitanzusehen, wie ihr eure Kräfte bündelt. Ich wusste nicht, dass das möglich ist.“ Seivoss´ Worte rissen Laura aus ihren zermürbenden Gedanken.
Ihre Aktion war also doch nicht unbemerkt geblieben. Laura überlegte, was sie sagen sollte, doch ihr wollte nichts einfallen. Als er ihren inneren Konflikt bemerkte, nickte Seivoss und ließ die Sache auf sich beruhen.
„Hast du schlimme Schmerzen?“, wollte er stattdessen von ihr wissen, als er sah, wie sie bei jeder kleinsten Bewegung zusammenzuckte.
Laura lächelte etwas verzerrt. „Ja, aber das ist bald vorüber.“
Eine Weile schwiegen sie beide, bis Laura schließlich meinte: „Ich hoffe nur, Lilly braucht nicht allzu lange. Ich hasse diesen Wald.“
Seivoss nickte und sah sich betrübt um.
„Du hättest ihn damals sehen sollen, bevor Khorus mithilfe von Exorsus begann ihn zu vergiften. Der Wald war eine Augenweide. Die Bäume wuchsen bis weit in den Himmel hinauf und trugen das ganze Jahr über ihre Blätter. Die mit Moos bewachsenen Stämme leuchteten grün im Schein der Sonne und die Luft war rein und durchzogen von Vogelgesang. Ich würde dir wünschen, dass du irgendwann in den Genuss dieses Anblicks kommst, doch wie es aussieht, gibt es für den Wald keine Hoffnung mehr. Die Bäume sind tot. Selbst mit Exorsus könnte man sie nicht mehr zum Leben erwecken.“
Laura musste an Keth Salvara denken. Damals, als sie mit Angel unter dem Nachtwald gefangen war, hatte sie die Wurzeln der Bäume gesehen. Sie waren alles andere als tot gewesen, im Gegenteil, lebendiger hätten sie kaum sein können. Das Licht, das von ihnen ausging ... es steckte noch Leben in diesem Wald, daran bestand kein Zweifel. Aber wie damals hatte Laura auch jetzt das Gefühl, dass es besser wäre diese Entdeckung für sich zu behalten.
„Was ist das?“, flüsterte einer der Leimoniaden und deutete auf eine Stelle, nicht weit von ihnen entfernt. Da schimmerte etwas, ganz matt nur, aber in der Dunkelheit des Waldes, war es deutlich zu erkennen.
„Lasst uns von hier verschwinden!“, befahl Seivoss flüsternd, an seine Männer gewandt.
„Es kommt näher“ zischte Laura ihnen zu.
„Los beeilt euch!“
Die Männer standen auf, in der Absicht sich leise zu entfernen, doch es war bereits zu spät, das Licht hatte sie erreicht.
Überrascht aber zeitgleich auch erleichtert erkannte die Gruppe wer oder besser gesagt was, für den bläulichen Schimmer verantwortlich war. Es handelte sich um eine Schar großer Glühwürmchen, wie Laura sie schon in der Grotte unter Keth Savara gesehen hatte.
„Das sind Mysarun“, verkündete Seivoss erstaunt. „Was haben sie in diesem Teil des Waldes zu suchen?“
„Mysarun?“ Laura erinnerte sich an Alexis Erzählungen.
Es handelte sich dabei um kleine, scheue Feenwesen. Aber meinte er damals nicht, sie wären größer? Offensichtlich ein Irrtum.
Die kleinen Gestalten schwirrten vor den Gesichtern der Gefährten herum, weshalb Laura sie endlich genauer betrachten konnte. Eine echte Herausforderung, so winzig und schnell wie diese sonderbaren Wesen waren. Dennoch schaffte sie es, ein paar sehr interessante Details zu erhaschen.
Die Mysarun flogen nicht einfach nur. Sie saßen auf Vehikeln, die Fahrrädern sehr ähnlich sahen. Offenbar funktionierten diese auch auf dieselbe Weise. Je fester die Mysarun strampelten, umso schneller bewegten sich die, mit den Reifen verbundenen Flügel. Kein Wunder, dass die kleinen Gestalten so hin und her flitzen konnten. Zusammen mit ihren eigenen Flügeln erzeugten sie einen regelrechten Wirbelwind.
Wie auf Kommando begannen die Feen, einen Kreis um die Gefährten zu ziehen. Dabei geschah etwas sehr Seltsames. Mit jedem Flügelschlag wuchsen sie ein kleines Stück. Als die Mysarun die Größe einer Hand erreichten, verpufften ihre Fahrräder.
Alexis hatte also doch recht gehabt.
Eine der Winzlinge, ließ sich auf Lauras Schulter nieder und musterte sie neugierig.
„Was für ein wundersames Wesen du bist“, flüsterte Laura und lächelte dabei.
Die Mysaru trug keine Kleidung. Ihre helle Haut schimmerte bläulich. Sie hatte ein freundliches Gesicht mit schräg stehenden Augen. Schwarze Augen, mit kleinen weißen Punkten darin, die an einen Sternenhimmel erinnerten. Ihre Nase war ungewöhnlich spitz und lang, ebenso die Ohren, was sehr lustig aussah.
„Kannst du sprechen?“, wollte Laura von der Mysaru wissen, doch diese schwieg und warf stattdessen einen Blick auf Memoria.
„Mysarun sprechen nicht. Sie haben eine andere Art sich zu verständigen.“
Seivoss klang ein wenig gereizt, was bestimmt daran lag, dass eine der kleinen Gestalten aufgebracht vor seinem Gesicht hin und her sauste und dabei wild mit ihren Händen herumfuchtelte. Als sie fertig war, wandte sie sich ab und entfernte sich ein Stück weit.
„Genau das meinte ich.“
„Sie scheint dir etwas zeigen zu wollen“, schlussfolgerte Laura.
Begleitet von einem leisen Ploppen, tauchten die Fahrräder wieder auf. Die Mysarun traten in die Pedale und begannen zu schrumpfen. Sie sammelten sich an einer Stelle und warteten darauf, dass die Gefährten ihnen folgten, was diese auch taten.
Doch blieben sie dabei stets wachsam. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass die Gruppe erneut angegriffen wurde. Was besonders für Laura fatal gewesen wäre, da sie kaum gehen, geschweige denn kämpfen konnte. Als Seivoss bemerkte, wie schwer Laura vorankam, half er ihr.
„Du hättest deine Schwester begleiten sollen.“
Laura verzog das Gesicht. „Das hätte ich wohl. Aber es war anfangs nicht so schlimm, ich dachte es würde gehen.“
„Dann lass uns hoffen, dass deine Schwester bald zurückkommt.“
„Ja, hoffen wir es.“ Besorgnis machte sich in Laura breit. Wo blieb Lilly nur so lange? Einziger Trost war, dass ihre Schwester die Gruppe jederzeit aufspüren konnte, egal, wo die Mysarun sie hinführten.
Ein matt rötliches Licht war das erste, das den Gefährten auffiel, als die Mysarun anhielten. Die kleinen Feenwesen verteilten sich und gaben damit die Sicht auf das frei, was vor ihnen lag. Das Licht kam von einem Lagerfeuer, das beinahe ausgegangen war. Nur noch ein paar Reste glühten leicht vor sich hin, weshalb man kaum etwas erkennen konnte.
Laura kniff die Augen zusammen und entdeckte eine Gestalt, die nicht weit vom Lagerfeuer entfernt lag. So zierlich wie sie war, musste es sich um eine Frau handeln.
„Die Mysarun, sie sind weg!“ zischte einer der leimoniadischen Soldaten.
Tatsächlich hatten sich die Mysarun ohne Vorwarnung davon gestohlen. Ihr Verschwinden war beunruhigend, weshalb die Gefährten sofort hinter einem Haufen knorriger Äste in Deckung gingen.
„Das könnte eine Falle sein, wäre nicht das erste Mal“, flüsterte Laura an Seivoss gewandt.
„Das glaube ich nicht. Mysarun sind gutmütige Wesen. Sie würden niemanden böswillig in eine Falle locken. Es muss einen Grund geben, warum sie uns hierher geführt haben.“
„Was schlägst du also vor?“
Der Leimoniade überlegte kurz. „Das Lagerfeuer, entzünde es neu. Ich will wissen, wer da vorne liegt.“
Laura zögerte kurz, ließ dann aber auf der Feuerstelle eine kleine Flamme entstehen.
Rundherum wurde alles in ein warmes Licht getaucht, so auch die reglose Gestalt. Sie lag mit dem Rücken zu ihnen, auf dem Boden. Laura spürte wie Seivoss nervös wurde. Vor ihnen lag zweifellos eine Leimoniadin, was jedoch nicht hieß, dass es Selana sein musste.
Seivoss erhob sich und machte Anstalten auf die Leimoniadin zuzugehen, doch Laura hielt ihn zurück.
„Warte noch“, zischte sie. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hier ganz allein ist.“
„Ist sie auch nicht!“, hörte Laura hinter sich eine tiefe Männerstimme sagen.
Seivoss und seine Soldaten sprangen auf und zogen dabei ihre Waffen. Laura war etwas langsamer, doch schließlich gelang es auch ihr, sich aufzurichten und einen Blick auf den Mann zu werfen, der die Gruppe ohne das geringste Geräusch zu verursachen, von hinten überrascht hatte. Er war groß und trug dunkle Kleidung. Sein Gesicht wurde zur Hälfte von seinem Umhang verdeckt. Im Gesamten wirkte er nicht sehr vertrauenserweckend, was unter anderem an der Armbrust lag, die er auf Seivoss gerichtet hatte.
„Sie ist es also wirklich?“, hörte Laura den Leimoniaden sagen.
Der Fremde nickte und ließ seine Armbrust sinken. Seivoss´ Männer entspannten sich, während Seivoss selbst sich umdrehte und auf die, immer noch am Boden liegende Gestalt zustürmte. Er fiel vor ihr auf die Knie und richtete sie vorsichtig auf.
Laura konnte nicht so ganz begreifen, was da gerade geschehen war. Sie sah den Fremden verdutzt an, wurde dabei aber nicht schlauer. Im Gegenteil.
Die Art, wie er ihren Blick erwiderte, irritierte sie, weshalb sie sich abwandte und stattdessen auf Seivoss zuging, der bereits von seinen Männern umringt wurde. Die Soldaten aus Amuna gaben währenddessen auf die Umgebung Acht.
Laura zwängte sich an den Leimoniaden vorbei und atmete erleichtert auf. Die Frau in Seivoss´ Armen war tatsächlich Selana oder besser gesagt das, was von ihr übrig war. Erleichterung wich Entsetzen.
„Gott, was hat man dir nur angetan?“
Laura ließ sich neben ihnen auf die Knie fallen und inspizierte Selanas Verletzungen. Die Wunden waren gut versorgt worden, sehr wahrscheinlich das Werk des Fremden, aber dennoch boten sie einen grauenvollen Anblick.
„Sie wurde gefoltert“, sagte Seivoss mit erstickter Stimme und strich Selana dabei ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Ja“, bestätigte der Fremde, der zu ihnen gestoßen war und sich ebenfalls vor Selana hinkniete. „Ich habe sie gefunden, an der Grenze zur Vastasteppe.“
Seivoss starrte den Fremden entsetzt an. „Glaubst du, sie wurde auf Torka festgehalten?“
„Ich fürchte ja. Ich konnte zwar noch nicht mit ihr sprechen, da sie zu schwach war, aber es besteht so gut wie kein Zweifel daran.“
„Warum? Wie konnte das geschehen?“ Es lag so viel Kummer in Seivoss´ Stimme, dass es einem das Herz schwer machte.
„Ich weiß es nicht. Sie war ohne mich nach Silvestria unterwegs, weil ich etwas Wichtiges in Amuna erledigen wollte.“
Der Blick des Fremden fiel auf Laura. „Doch noch bevor ich die goldene Stadt erreichen konnte, hörte ich davon, dass ihre Kolonne angegriffen wurde.“
„Wieso hast du mich denn nicht darüber informiert? Du hättest einen Bugol nach Silvestria schicken können“, fuhr Seivoss ihn entrüstet an.
„Dafür blieb keine Zeit. Ich musste sofort handeln, weshalb ich auch schnell die Spur ihrer Angreifer finden konnte. Doch mitten im Nachtwald verlor ich sie wieder, und so blieb mir nichts anderes übrig, als jeden Winkel des Waldes abzusuchen, bis ich von einem meiner Spitzel erfuhr, dass man sie in den Norden gebracht hatte. Vor vier Tagen habe ich Selana dann gefunden, halb tot.“
Der Fremde räusperte sich. „Genaueres werde ich dir erzählen, wenn wir in Sicherheit sind. Seivoss, eine Gruppe von Khorus´ Hunden und Kaubuks ist uns auf den Fersen. Ich habe es zwar geschafft, sie auf eine andere Fährte zu locken, aber sie könnten jederzeit zurückkommen. Wir sollten zusehen, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen.“
„Sei unbesorgt. Die Kaubuks sind vernichtet und die Hunde auch“, sagte Laura erschöpft, „dafür haben wir einen hohen Preis bezahlt.“ Den Schmerz unterdrückend erhob sie sich und wandte sich von der Gruppe ab. Ihr Blick fiel auf die Toten, die man auf Seivoss´ Befehl hin ins Lager gebracht hatte.
Wo blieb Lilly nur so lange? Laura machte sich große Sorgen. Hoffentlich hatte ihre Schwester den Transport der Männer unbeschadet überstanden.
„Verzeih mir meine Forschheit“, hörte Laura Seivoss sagen, „du warst meiner Tochter stets ein guter Freund, und du hast sie mir zurückgebracht. Ich weiß nicht wie ich dir dafür danken soll.“
„Du bist mir keinen Dank schuldig“ antwortete der Fremde. „Hätte ich sie nicht allein ziehen lassen, wäre das alles nicht geschehen.“
„Niemand kann sagen was geschehen wäre, Calvin. Bürde dir nicht diese Last auf. Ihr seid beide hier und ihr seid am Leben, das ist alles was zählt.“
Calvin? Laura drehte sich überrascht um. War das etwa Henrys ominöser Freund? Der, über den er nicht sprechen wollte?
Der Fremde erhob sich und trat an sie heran, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Seivoss zurechtkam.
Sie reichte ihm gerademal bis zur Schulter, weshalb Laura, jetzt da er so dicht vor ihr stand, ihren Kopf etwas in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
Wieder bedachte er sie mit diesem durchdringenden Blick. Seine dunkelblauen Augen hielten ihre regelrecht gefangen. Laura musste schlucken. Irgendetwas hatte er an sich. Etwas, das sie faszinierte und gleichzeitig einschüchterte und das machte sie nervös.
„Du bist eine Hüterin, nicht wahr?“, wollte der Fremde von ihr wissen.
Laura blinzelte und räusperte sich. „Ja, das bin ich.“
Gerade als er zu einer zweiten Frage ansetzen wollte, tauchte Lilly auf.
„Lilly, da bist du ja endlich!“ Laura humpelte auf ihre Schwester zu und fiel ihr um den Hals. „Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht.“
Lilly erwiderte die Umarmung. Dass Laura dabei zusammenzuckte, merkte sie gar nicht. Dafür war sie zu sehr auf den Mann vor sich fixiert. Calvin musterte sie mit finsterem Blick, wandte sich dann aber wortlos ab.
„Wer ist das?“, fragte Lilly ihre Schwester vorsichtig, um herauszufinden wie viel Laura von Calvin erfahren hatte.
„Ich bin mir nicht sicher, aber Seivoss kennt ihn gut und, was noch wichtiger ist, er hat Selana gefunden. Sie ist schwach und schwer verwundet“, sagte Laura betrübt, „aber sie lebt.“
Lilly blickte erleichtert in Seivoss´ Richtung und auf die Frau in seinen Armen. „Endlich eine gute Nachricht.“
„Denkst du denn, du schaffst es ein zweites Mal? Du siehst unglaublich blass aus“, stellte Laura beunruhigt fest.
„Ja, alles gut. Aber lass uns gleich loslegen, ich bin ein wenig erschöpft“, erwiderte Lilly und versuchte dabei so gelassen wie möglich zu klingen.
Laura runzelte zwar die Stirn, nickte aber. „Okay, dann bringen wir es hinter uns, komm.“
Sie hakte sich bei ihrer Schwester ein und führte sie zu den anderen.
„Ich werde nachkommen“, sagte Calvin an Seivoss gewandt, während sich alle für den Transport bereit machten, „ich muss hier noch etwas erledigen.“
„Soll dich einer meiner Männer begleiten?“, fragte der Leimoniade besorgt.
„Nein, ist nicht nötig. Es wird nicht lange dauern.“
„Gut, wie du willst.“ Seivoss nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Tochter.
Calvin nutzte einen Moment in dem Laura kurz abgelenkt war, packte Lilly am Arm und brachte sein Gesicht ganz nahe an ihr Ohr.
„Lass mich nicht zu lange warten“, knurrte er und ließ sie wieder los. Ohne ein weiteres Wort, drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
„Lilly, wir sind fertig“, wandte sich Laura an ihre Schwester. Als diese nicht reagierte, gab sie ihr einen leichten Schups.
„Was?“
„Du kannst anfangen.“
Lilly nickte immer noch etwas abwesend. Sie nahm ihre Schwester an der Hand und versuchte sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Wie beim ersten Mal, begann es zu regnen und zwar so stark, dass die Gefährten die Köpfe senken mussten, um Luft holen zu können.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen alle ohne weiteren Schaden am östlichen Steg Amunas an. Dort wartete man bereits ungeduldig auf sie.
„Laura!“ Henry kam eilig auf Laura zu und zog sie in seine Arme. „Dem Himmel sei Dank.“
„Autsch, vorsicht“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Henry rückte von ihr ab. „Was ist? Bist du verletzt?“, fragte er besorgt.
Laura lächelte etwas verzerrt. „Keine Bange. Es fühlt sich schlimmer an als es ist. Morgen bin ich wieder wie neu.“
Henry schüttelte zwar den Kopf, sah dabei aber unglaublich erleichtert aus. Im nächsten Moment wandte er sich Seivoss zu und riss erstaunt die Augen auf, als er Selana sah. Sie wurde gerade vorsichtig auf eine Trage gelegt und zugedeckt.
Lilly beobachtete das Geschehen, war mit den Gedanken aber ganz woanders.
„Was hast du?“, fragte Raoul, der von hinten an sie herangetreten war.
Sie wandte ihm das Gesicht zu, sah ihm allerdings nicht in die Augen. „Das erzähle ich dir später. Wenn Laura fragt, sag ihr, ich brauche einen Moment für mich, damit ich wieder zu Kräften kommen kann.“
„Warum … was?“
Lilly war so schnell, dass Raoul sie nicht zu fassen bekam. Mit einem Satz sprang sie über das Geländer des Plateaus in die Tiefe und verschmolz mit dem Wasserfall. Natürlich wusste Raoul, dass ihr dabei nichts geschehen konnte, dennoch blieb ihm bei dem Anblick beinahe das Herz stehen.
„Was hat sie vor?“, wollte Laura von ihm wissen und blickte wie er auf den See hinab.
„Sie meinte, sie bräuchte ein wenig Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen.“
Laura betrachtete ihn besorgt. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sie war vorhin schon so seltsam.“
„Lilly ist bloß erschöpft“, versuchte Raoul Laura zu beruhigen, obwohl er selbst mehr als beunruhigt war, „es war unglaublich anstrengend so viele Personen zu transportieren. Im Wasser fühlt sie sich am wohlsten. Es wird ihr gut tun. Ich bin mir sicher, dass Lilly dich aufsuchen wird, sobald sie wieder bei Kräften ist.“
„Du hast recht. Es schadet ihr bestimmt nicht.“ Laura legte Raoul eine Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Lass uns zu den anderen gehen.“
Als Lilly zur Stelle im Nachtwald zurückkehrte, wurde sie bereits erwartet.
„Es gibt ganz offensichtlich etwas, über das wir uns unterhalten müssen“, sagte Calvin und musterte sie kühl.
Lilly verschränkte abweisend ihre Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht, was du meinst.“
Calvin kniff die Augen zusammen. „Verkauf mich bloß nicht für dumm. Du weißt sehr wohl, was ich meine. Es geht um Laura und ihr merkwürdiges Verhalten … sie war nicht sie selbst.“
„Doch das war sie und zwar zu hundert Prozent“, presste Lilly zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das ist Laura, wie ich sie kenne und liebe, schon seit ich denken kann. So war sie schon immer, bis du ihr über den Weg gelaufen bist!“
Calvins Blick sprach Bände. Es war klar, was er dachte, und er hatte recht. Er trug nicht allein die Schuld an Lauras Schmerz.
Dennoch war Calvin der Auslöser für ihr seltsames Verhalten gewesen. Ihre Schwester war mit allem fertig geworden, irgendwie, außer mit seiner Zurückweisung. Er hatte mehr Macht über die Gefühle ihrer Schwester, als irgendjemand sonst, warum auch immer. Und nach allem was Lilly über ihn wusste, war auf ihn kein Verlass. Calvin drehte sich wie der Wind und würde Laura daher immer wieder verletzen. Sie musste ihn von ihrer Schwester fernhalten.
„Du willst wissen, warum Laura so seltsam auf dich reagiert hat? Gut, ich sag´s dir. Sie kennt dich nicht, ihr seid euch nie begegnet. Sie hat dich aus ihrem Gedächtnis gelöscht!“
Calvin wich alle Farbe aus dem Gesicht.
„Und ihr habt das zugelassen? Habt ihr den Verstand verloren?“, brüllte er außer sich vor Zorn.
„Das war ihre Entscheidung, ihre allein!“, schrie Lilly ihn an. Um sich wieder zu sammeln, holte sie tief Luft.
„Nie hat Laura einen Mann so sehr geliebt wie dich, was ich nach allem, was ich über dich weiß, nicht nachvollziehen kann. Doch mit deinem Verschwinden hat sich alles verändert. Mit jedem Tag hat dich Laura mehr verachtet und am Ende wollte sie nur noch, dass du aus ihrem Leben verschwindest. Da es ihr nicht auf normalem Weg möglich war, dich zu vergessen, beschloss sie ihre Fähigkeiten einzusetzen, ungeachtet der Konsequenzen. Und wie sich herausstellte, war es eine gute Entscheidung.
Calvin, du würdest nicht nur sie, sondern auch dich unglücklich machen, wenn du ihr das wieder wegnimmst. Denn auch wenn Laura sich an dich erinnert, ihre Liebe zu dir ist längst erloschen. Akzeptiere, dass du nie wieder ein Teil ihres Lebens sein wirst, egal, was du tust. Lass sie gehen. So wäre es für euch beide das Beste.“
Stille folgte. Es lag so viel Kälte in Calvins Blick, dass Lilly ein eisiger Schauer über den Rücken lief.
„Verschwinde“, knurrte er schließlich und kehrte ihr den Rücken zu.
„Was wirst du jetzt tun?“, wollte Lilly von ihm wissen und hoffte inständig, dass sie mit ihren Worten ihr Ziel erreicht hatte.
„Das geht dich nichts an.“ Calvins Zorn war verraucht und er klang nur noch erschöpft.
„Sie ist glücklich, Calvin. So glücklich wie schon lange nicht mehr. Ist das nicht alles, was zählt?“
Lilly hatte ein schlechtes Gewissen. Es war mehr als offensichtlich, dass Calvin etwas für ihre Schwester empfand. Doch wie, wenn nicht so, sollte sie ihre Schwester vor erneutem Kummer bewahren?
Ohne ein weiteres Wort verschwand Calvin in der Dunkelheit des Waldes.