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Keth Salvara
Unten angelangt, musste Laura all ihren Mut zusammennehmen, um nicht sofort wieder umzudrehen. Die Mauern bewegten sich, sie stöhnten und ächzten so laut, dass man beinahe nichts anderes mehr hören konnte. Dennoch vernahm sie es erneut. Ein hohes Stimmchen, das sich beim Schreien überschlug und von einem verzweifelten Wimmern begleitet wurde. Laura wollte schon loslaufen, als irgendjemand sie grob am Arm packte.
»Wenn du nicht freiwillig mitkommst, zerre ich dich an den Haaren rauf, das schwöre ich!«, zischte ihr Calvin zornig ins Ohr.
Laura ignorierte ihn und suchte den dunklen Gang mit ihren Augen ab. »Da vorne!«
Sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm und fand … ein kleines Mädchen.
Vielleicht drei Jahre alt, mit knallrotem Kopf und tränenüberströmten Wangen. Es stand da und schrie aus Leibeskräften.
»Wir müssen ihr helfen!« So schnell konnte Calvin gar nicht reagieren, hatte sich Laura auch schon losgerissen und rannte auf das Mädchen zu.
»Laura, nein!«
Irgendwo in den hinteren Gängen stürzte eine Wand ein. Das Grollen war ohrenbetäubend. Wild fluchend rannte Calvin hinter ihr her und musste mit ansehen, wie eine tosende Welle Salzwasser durch die Gänge brach und genau auf sie zu hielt.
Laura hatte das Mädchen erreicht und nahm es in den Arm. Sie wusste, dass es zu spät war wegzulaufen, also drehte sie den Wassermassen den Rücken zu und beugte sich schützend über das kleine Kind. Sie konnte spüren, wie Calvin sich hinter sie stellte und seine Arme fest um sie schlang, bevor die Welle sie mit voller Wucht erwischte.
Es war ein Gefühl als würden sie auf Beton aufschlagen, so enorm war der Druck, der sie mit sich riss. Obwohl der Aufprall ihr fast das Bewusstsein raubte, ließ Laura das Mädchen nicht los und auch Calvin hatte Laura immer noch fest im Griff. Mit jedem Meter, den sie von der Welle mitgerissen wurden, rechneten sie damit, gegen eine Wand zu prallen, was wohl ihr Ende bedeutet hätte. Es war schrecklich, nicht zu wissen, wo sie hingetrieben wurden. Sie bekamen kaum Luft, da sich ihre Nasen und Münder ständig mit Salzwasser füllten. Laura konnte das Mädchen verzweifelt japsend nach Luft ringen hören, zumindest war es noch am Leben und auch Calvins Keuchen drang in ihre Ohren, was trotz ihrer Lage etwas Erleichterung in ihr aufkommen ließ.
Sie konnte nicht sagen, wie weit sie schon mitgerissen wurden als sie hörte, wie vor ihnen irgendetwas einstürzte, als hätten die Wassermassen erneut eine Wand durchstoßen.
Für ein paar Sekunden befanden sie sich im freien Fall, bevor sie auf einem harten, felsigen Untergrund aufschlugen. Links und rechts von ihnen ging es steil bergab. Hätte Calvin Laura und die Kleine nicht festgehalten, wären sie mitsamt den Wassermassen in die Tiefe gestürzt. Mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnten, suchten sie nach Halt und begannen zu kriechen. Egal wohin, nur weg vom Wasser. Langsam tasteten sie sich vorwärts, bis sie schließlich nicht mehr nur Felsen, sondern noch etwas anderes unter ihren Fingern spürten. Moos.
Von Hoffnung getrieben krochen sie immer weiter, bis sich vor ihnen ein breiter Tunnel auftat, aus dem ihnen ein fahles grünes Licht entgegen schien. Lauras Beine zitterten wie Espenlaub, als sie versuchte aufzustehen, um dem Mädchen ebenfalls auf die Beine zu helfen.
»Seid ihr verletzt?« Calvin hatte sich schnaubend nach vorn gebeugt, die Hände gegen seine Oberschenkel gestemmt.
»Nein, ich denke nicht.« Laura wischte dem Mädchen die kurzen blonden Locken aus dem Gesicht und streichelte ihre Wange. Es sah so müde und abgemagert aus. »Tut dir irgendetwas weh?«
Schluchzend nickte die Kleine mit dem Kopf.
»Wo denn?«
Sie deutete auf ihre Knie, die ziemlich böse aufgeschürft waren.
»Keine Angst, das kriegen wir wieder hin.« Calvin kam näher und bückte sich zu dem Kind hinunter. »Wie heißt du denn, Kleines?«
Laura strich ihr sanft übers Haar. »Sie heißt Angel.«
Lächelnd beugte Calvin sich vor und stupste die Nase des Mädchens an.
»Na sieh mal einer an, was für ein schöner Name.« Er blickte zu Laura auf und runzelte die Stirn. »Woher weißt du, wie sie heißt?«
Laura sah betrübt auf das kleine Kind hinab. »Ich habe es in ihrer Erinnerung gesehen, oben im Kerker.«
Ihr Blick schweifte von dem Mädchen zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Man konnte noch immer das Tosen des Wassers hören. »Weißt du, wo wir hier sind?« Calvin schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Ahnung, aber ich meine, wir sollten es schleunigst herausfinden.«
Er hob Angel in die Höhe und ging dicht gefolgt von Laura auf das Licht zu. Am anderen Ende des Tunnels angekommen, fanden sie den Ursprung dafür und rissen überwältigt die Augen auf. Mit einem Mal hörte Angel auf zu schluchzen und streckte ihre kleinen Finger aus. Man konnte es nicht beschreiben, es war mehr oder weniger eine Landschaft, nur unter der Erde. Sie war durchzogen von einem dunstig-
Als Calvin Laura bedeutete weiterzugehen, richtete sich seine ganze Aufmerksamkeit auf die riesigen Wurzeln, die die Decke fest zusammenhielten. Sie reichten an manchen Stellen bis zum Boden hinab und wickelten sich um die Steinsäulen, als wollten sie sie am Emporsteigen hindern. Daraus entstanden wunderschöne Muster, die nur die Natur schaffen konnte, so komplex waren sie.
Doch war das bei Weitem nicht alles, was diesem Ort eine sonderbar-
»Wo sind wir hier bloß?« Laura verspürte ein leichtes Unbehagen, hervorgerufen durch den Nebel und die Stille, obwohl sie, auf der anderen Seite wiederum, fasziniert war von dem schaurig-
»Ich schätze, wir befinden uns im Nachtwald. Oder besser gesagt unter ihm.« Calvin setzte Angel auf einem Wurzelstamm ab und streifte mit seinen Händen an der Rinde entlang. »Er ist so voller Leben.«
»Was meinst du?« Laura kam nun ebenfalls dazu und strich über die raue Oberfläche.
»Ich meine, dass diese Wurzeln hier eigentlich schwarz und verdorrt sein müssten, genau wie die Bäume an der Oberfläche. Aber sie sind es nicht. Khorus hat es also doch nicht geschafft, diesen Wald zu zerstören. Sein Blut pulsiert«, Calvin hielt sein Ohr an die Wurzel, »und sein Herz schlägt noch.«